„Fleisch ist ein Stück Lebenskraft!“ Dieser Slogan der deutschen Agrarwirtschaft spiegelt einen über Jahrzehnte gültigen Grundkonsens der bundesdeutschen Nachkriegszeit wider. Fleisch ist für viele noch heute ein Symbol des Wohlstands und der Stärke; es ist Inbegriff einer richtigen Mahlzeit. Gleichwohl ist seit einigen Jahren ein stetiger Verfall dieses Mythos zu beobachten: Fleisch wird zunehmend problematisiert, die Nebenfolgen des zwar stagnierenden, aber nach wie vor hohen Fleischkonsums werden diskutiert und die Apologeten des unbeschwerten Fleischessens geraten zunehmend in die Defensive. Das heute allseits zu günstigen Preisen verfügbare Grundnahrungsmittel hat seine Unschuld verloren. Schon fällt die Prognose für Fleisch – etwa von einem bekannten Wursthersteller – düster aus: „Die Wurst ist die Zigarette der Zukunft!“. Dass eine Wurstfabrik vegetarische Produkte entwickelt und diese auch mit einigem Erfolg verkauft, kann als Indiz für einen gesellschaftlichen Wandel angesehen werden. Fleisch- und tierfreie Ernährungs- und Lebensweisen, über lange Zeit belächelt und verfemt, erlangen zunehmend gesellschaftliche Relevanz, werden sichtbar und meinungsbildend. Problematisiert werden nicht nur gesundheitliche Folgewirkungen des Fleischkonsums, sondern vor allem auch die mit der Produktion verbundenen massiven ökologischen Folgen, wie zum Beispiel Klimabelastung, Wasser- und Flächenverbrauch, die damit einhergehenden globalen Ungerechtigkeiten und ethischen Probleme der Nutztierhaltung. So kam jüngst der Wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (2015) zu der Einschätzung, dass die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere in Deutschland nicht zukunftsfähig seien.
Aber auch Fleischproduzenten und -händler sowie Verfechter des Fleischgenusses gehen in die Offensive: So weist der Bayerische Bauernverband darauf hin, dass mit den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein „höherer Tierkomfort“ geschaffen wurde. Heutige moderne Haltungsbedingungen könnten nicht pauschal als nicht zukunftsfähig bezeichnet werden. Der zentrale Stellenwert des Fleisches auf den Tellern deutscher Konsumenten, lässt sich auch an Publikationen wie dem Magazin „Beef!“ ermessen, in dem „Männer mit Geschmack“ zu einem ungehemmten Karnismus angehalten werden. Andererseits sind solche Publikationen (ähnlich wie die Flut von Landillustrierten) auch Anzeiger einer Krise, da der Fleischkonsum nicht mehr selbstverständlich erscheint.
Fleisch entwickelt sich zu einem Reizthema und hat als solches Potenzial zur Skandalisierung und dauerhaften Politisierung. Am Fleischthema wird so ein Paradox auffällig: Die moderne Nutztierhaltung wird durch die weitere Industrialisierung immer effizienter und profitabler, aber auch unsichtbarer. Dadurch verändert sich das Verhältnis der Konsumenten auch zu Tieren und vor allem Schlachttieren: Sie kritisieren die Zustände der modernen Nutztierhaltung oder lehnen sie ganz ab. Zugleich nehmen die Konsumenten diese Produktionsbedingungen eben wegen ihrer Effizienz, Professionalität und Unsichtbarkeit billigend in Kauf, wenn der Preis für die immer tierferner erscheinenden Produkte niedrig bleibt. Vor diesem Hintergrund werden Forderungen erhoben, neue, nachhaltigere Produktionssysteme wie auch Konsummuster zu entwickeln. Dabei greifen Ansprüche an die Verantwortung des Konsumenten respektive des Produzenten regelmäßig zu kurz, weil sie eine Überforderung von Individuen darstellen und die multifaktoriellen Bedingungen ignorieren, unter denen die Produktion und der Konsum von Fleisch stehen.
Das Thema Fleisch ist für verschiedene sozialwissenschaftliche Disziplinen lohnend, weil Fleisch als Kristallisationspunkt verschiedener Diskursstränge erscheint, die bereits seit geraumer Zeit in diversen öffentlichen wie wissenschaftlichen Debatten virulent sind. Dies sind die Gesundheits- und Umweltdiskurse, Debatten um nachhaltige Ernährung, nachhaltigen Konsum und nachhaltige Land- und Agrarwirtschaft, der ethische Diskurs zu Tierwohl und zum Mensch-Tier-Verhältnis bis hin zum Genderdiskurs. Mit diesen Debatten lassen sich Brücken zwischen verschiedenen Bindestrichsoziologien wie der Land- und Agrarsoziologie und Ernährungssoziologie, der Umweltsoziologie, Konsumsoziologie, Kultursoziologie und Geschlechtersoziologie, aber auch natur- und sozialwissenschaftlichen Betrachtungen schlagen.
Mit dem Sammelband soll das Thema Fleisch in seiner gesellschaftlichen Relevanz ausgeleuchtet werden. Mit Blick auf Fragen der Tierhaltung, der Schlachtung und Verarbeitung bis hin zu Konsum, Ernährung und Entsorgung sollen alle Prozesse der Wertschöpfungskette thematische Berücksichtigung finden. Darüber hinaus sollen globale wie regionale Perspektiven, historische Analysen wie prospektive Betrachtungen Berücksichtigung finden. Anliegen ist es, das gesellschaftliche Verhältnis zu Nutztieren zu betrachten, alternative Ernährungspraktiken sowie die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der heutigen und zukünftigen Fleischproduktion und -konsumption zu erörtern sowie Alternativen zur derzeitigen Fleischproduktion zu diskutieren.
Der Sammelband soll sich mit dem Themenkomplex in interdisziplinärer Perspektive befassen. Die Implikationen, die sozialen, ökonomischen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen und die Zukunft von Fleischproduktion und -konsum können sowohl theoretisch als auch empirisch untersucht und betrachtet werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller relevanten Disziplinen sind ausdrücklich zur Einreichung wissenschaftlicher Beiträge eingeladen. Hierzu bitten wir um Einreichung von Abstracts von maximal zwei Seiten bis zum 1. April 2016 an die Herausgeberinnen Jana Rückert-John (jana.rueckert-john@he.hs-fulda.de) und Melanie Kröger (Kroeger.Melanie@web.de).
Call für Beiträge für den Sammelband „Fleisch. Vom Wohlstandssymbol zur Gefahr für die Zukunft“
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