Die Konsequenzen von Migration und Flucht haben sich zu den größten politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen Europas entwickelt. Der Ernährung kommt dabei in mehrfacher Hinsicht eine Schlüsselrolle zu: Die Verpflegung der Zugewanderten stellt für die Verantwortlichen eine enorme Herausforderung dar. Ernährung ist neben der Verköstigung zudem für die Migrierten eine Möglichkeit, ihrer Identität Ausdruck zu verleihen. Essen und Ernährung sind Modi der Integration. Mit dem geplanten Sammelband sollen Perspektiven kultureller Annäherungen in theoretischer und anwendungsorientierter Perspektive beschrieben und analysiert werden.
2015 sind etwa eine Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Inwieweit sich diese Zahlen in naher Zukunft dynamisieren, ist kaum zu sagen, aber der Migrationsdruck im Mittleren Osten und in den Subsahara-Staaten ist groß, und er wird mittelfristig anhalten. Aus der Perspektive jener Disziplinen, die sich mit Ernährung befassen, ist dabei vor allem eine Tatsache relevant: In ihrem kulturellen Gepäck bringen die Zuwanderenden andere Ernährungsgewohnheiten, andere Vorstellungen von gesunden oder zu vermeidenden Lebensmitteln, andere Vorstellungen von Mahlzeit und Gastlichkeit und andere kulturelle Werte mit. Im Aufnahmeland geraten diese eingespielten Systeme zwangsläufig unter Akkulturationsdruck. Die gesellschaftliche Herausforderung bestehen darin, eine Ernährung der Zugewanderten gemäß ihren Bedürfnissen zu gewährleisten und dabei die Anforderungen von gesunden und nachhaltig produzierten Lebensmitteln nicht aus dem Auge zu verlieren. Das Thema weist aber noch eine weitere entscheidende Dimension auf: Ernährung ist immer auch ein kulturelles Kommunikationssystem. Über Ernährung drücken sich Akzeptanz oder Ablehnung aus. Die Art und Weise, wie der Ernährungsalltag der Zuwandernden gestaltet und vor allem auch kommuniziert wird, könnte in erheblichem Maße über den Integrationserfolg entscheiden. Aus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Ernährungsforschung ist bekannt, dass Essen und Trinken, im weiteren Sinne die Ernährung der Beschreibung der eigenen Identität dient. Das kann ebenso für nationale oder regionale Identitäten angenommen werden, die sich durch National- und Regionalkü- chen konstituieren. Identität bestimmt sich dabei über Zugehörigkeit (Inklusion), aber auch Abgrenzung gegenüber Anderen (Exklusion). Denn das Eigene kann immer nur durch die Bestimmung des Unterschieds, der Differenz zum anderen definiert werden. So können Ernährung, das Essen und das Kochen in der Fremde Sicherheit, Ordnung und Zugehörigkeit vermitteln. Sie ermöglichen Akkulturation, das heißt eine kulturelle Angleichung an die fremde Gesellschaft. Dies kann im Sinne einer Assimilation zur Aufgabe der eigenen kulturellen Identität führen oder zu erfolgreicher Integration im Sinne der Beibehaltung eigener kultureller Eigenschaften bei gleichzeitiger Offenheit für Neues.
Folgende Fragen und Themen sollten vorzugsweise mit den Beiträgen des Sammelbands fokussiert werden:
• Wie lässt sich die Verpflegungs- und Versorgungssituation von Zugewanderten zwischen Verköstigung durch Caterer und Eigenversorgung beziehungsweise Beteiligung bei der Essenszubereitung beschreiben?
• Wie geht die Aufnahmegesellschaft mit fremden Ernährungsgewohnheiten und Esssituationen in kommunalen Erstversorgungseinrichtungen durch Caterer und andere Akteure (wie z. B. Flüchtlingshelfer) um?
• Welche zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekte im Ernährungsbereich praktizieren gelebte Integration und Gastfreundschaft? Welche Erfahrungen werden hierbei gesammelt (wie z. B. interkulturelle Gärten; „Über den Tellerrand kochen“)?
• Zu welchen soziale Spannungen und Konflikten kommt es im Zuge der Integration (z. B. knappe Ressourcen an den Tafeln Deutschlands)?
• Welche Ansätze und Bestrebungen gibt es in Deutschland, um Zugewanderte in den Arbeitsmarkt der Food-Branche zu integrieren?
• Welche Erweiterungen der Gastronomie und Supermarktangebote durch und für Zugewanderte finden statt?
Die Beiträge sollen neben den spezifischen Fragen, die sich auf die Themenfelder beziehen, folgende übergreifende Fragen beantworten:
• Welches Integrationsverständnis liegt zugrunde?
• Mit welchen Herausforderungen (zeitlich, räumlich, sozial, finanziell) sind die Projekte oder Initiativen konfrontiert?
• Wie wird über Kochen und Essen Integration ermöglicht? Mit welchen Ausgrenzungsprozessen ist dies verbunden (Exklusion)?
• Wie verändern sich die heimischen Esskulturen?
• Welche Narrative des Essens und der Ernährung lassen sich identifizieren?
• Wie nehmen Migrierte die deutsche Kultur im Spiegel der Esskultur war?
Die genannten Themen und Fragen sind nicht abschließend zu verstehen, sondern können durch weitere gerne ergänzt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, wie Sozial- und Kulturwissenschaften, interdisziplinär arbeitende Ernährungswissenschaften, Politikwissenschaften, Geografie, Erziehungswissenschaften und Soziale Arbeit, sind eingeladen, sich mit Beiträgen zu beteiligen.
Hierzu bitten wir um Einreichung von Abstracts (1-2 Seiten) bis zum 30. Juni 2016 an den Vorstand des Netzwerks Ernährungskultur (esskult.net). Nutzen Sie hierzu die E-Mail: info@esskult.net.
Die ausgewählten Beiträge sollen bis Ende Dezember 2016 erstellt werden. Der Umfang der Beiträge soll maximal 20 Seiten betragen (incl. Literatur) (1,5 zeilig, 12er Schrift, Times New Roman). Es ist geplant, den Sammelband in der Buchreihe „Ernährung der Gesellschaft“ im Nomos Verlag zu veröffentlichen.
Den kompletten Call als PDF-Datei stellen wir Ihnen hier als Download zur Verfügung.